Wie uns 2020 überrascht hat

Als wir alle Pläne für 2020 machten, hat wohl niemand geahnt, welche Bedeutung die Meldungen aus Wuhan haben würden, die uns im Dezember erreichten. Der Virus, der den Namen Krone trägt, regiert die Welt. Doch es zeichnet uns Menschen gerade aus, dass wir auf Herausforderungen und Problemen mit Ideen und innovativen Entwürfen reagieren können.

Krisen wirken wir Beschleuniger

Krisen wirken wir Beschleuniger – wie in einem Brennglas offenbaren sich Schwächen und Stärken, die vorher schon bestanden haben. Neue Probleme und Herausforderungen treffen auf existierenden Strukturen und Prozesse. Doch diese waren nie für solche Situationen und Umstände entwickelt worden. Und so banal es kling, ist es doch richtig: außergewöhnliche Herausforderungen erfordern  außergewöhnliche Lösungen und den Mut, neue Wege zu gehen. Womit wir schon beim Thema Mediation und mediative Kompetenzen sind. Denn genau das ist Mediation: neue Wege zu schaffen, wenn die bisherigen nicht mehr weiterführen.

Dialogische Kompetenzen – wer sie sehen will, kann sie entdecken

Die Mediation und die mit ihr zu verbindenden Kompetenzen ermögliches es, in komplexen Zusammenhängen Räume zu schaffen, die ein vertieftes Verstehen und wissensbasierte Entscheidungen ermöglichen. Hört man manchen Politiker_innen genau zu, so nehmen wir einiges von dem wahr, was zum Kompetenzfeld dialogischer Problemlösungen und Mediation gehört. Dazu gehören:

  • Die Wertschätzung unterschiedlicher Perspektiven, die durchaus in einem Spannungsverhältnis mit einnander stehen können und dürfen. Erst die Zusammenschau unterschiedlicher Perspektiven erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass wesentliche Punkte nicht übersehen oder verzerrt werden.
  • Das es  nicht darum geht, dass einer Recht und der anderen Unrecht hat, sondern dass jede und jeder einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis des Ganzen beitragen kann.
  • Die Einsicht in die Begrenztheit der Planbarkeit und Vorhersehbarkeit der Entwicklung.
  • Die Notwendigkeit kontinuierlicher gemeinsamer Reflektion und Kritik und Anpassung von Entscheidungen an sich dynamisch verändernde Umstände.
  • Ein Vorgehen, welches Entscheidungen an Faktoren und nicht an Positionen orientiert.
  • Die Suche nach der für alle besten Lösung – so anstrengend das auch sein mag, nicht vorschnell auf einen Kompromiss auszuweichen.
  • Die Kompetenz, mit komplexen Zusammenhängen systemisch umzugehen und dadurch auch unter den Bedingungen von Unsicherheit, Mehrdeutigkeiten und hoher Dynamik wissensbasierte Entscheidungen treffen zu können.

Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie zeigt jedoch, dass mediative Elemente bereits eine entscheidende Rolle spielen.

Die systemische Bearbeitung der Krise bleibt eine große Herausforderung

Wie auch immer man später einmal das Krisenmanagement in den unterschiedlichen Regionen der Welt und im internationalen Maßstab beurteilen wird. Schon jetzt zeigt, sich, dass auch die offene Gesellschaft in der Lage ist, auf derartige plötzliche und gravierende Herausforderungen zu reagieren, ohne sich selbst und ihre Voraussetzungen zu verraten.

Gerade im gemeinsamen Diskurs ist es Deutschland gelungen, Entscheidungen zu treffen, die – Stand heute – das Land im internationalen Vergleich in Bezug auf seine Gesundheitsdaten, ganz ordentlich da stehen läßt. Die Bundesregierung hat früh den Austausch mit Expert_innen gesucht. Vielleicht anfangs einseitig, aber sie hat auf dem Weg gelernt und weitere Perspektiven hinzugezogen. Sie hat sich auseinandergesetzt und angesichts von Unsicherheit vorsichtig und tastend agiert. Im Nachhinein werden wir alle schlauer sein.

Die EU muss ihre Rolle noch finden – auch hier zeigt die Krise schmerzhaft die Versäumnisse und Defizite auf

Doch können wir uns mit einem Blick nur auf Deutschland zufrieden geben? Selbstverständlich nicht. Dass aber die EU hier ihre Rolle noch finden muss, ist offensichtlich. Auch hier offenbart die Krise die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte. Die nicht-vergemeinschaften Politikbereiche fallen zurück in den nationalstaatlichen Diskurs ohne gemeinsame Koordinierung und vernüftige Absprache. Dennoch, ein zuversichtlicher Blick sieht, dass es noch möglich ist, die EU als Gemeinschaft durch die Krise zu stärken. Der Wille ist bei einigen da, auch sie gilt es jetzt zu unterstützen. 

Die Pandemie ist nicht nur eine gesundheitliche, sondern auch eine soziale und wirtschafltiche Krise. Sie ist eben kein Gleichmacher, denn sie trifft nicht alle Menschen gleich. Gerade die globale Dimension wird in den Debatten in Deutschland fast gänzlich ausgeblendet. Wer keinen Zugang zu einem funktionierenden Gesundheitssystem hat, sieht sich einer ganz anderen Gefahr ausgesetzt. Insofern zeigt sich bereits jetzt, dass die nationalen Reflexe mit denen auf eine globale Krise reagiert wurde, Rituale wiederholen, die den Herausforderungen der globalen, interdependenten Welt, die wir selbst geschaffen haben, noch immer nicht gerecht werden. Dieser Reflex offenbart, dass wir uns sehr wohl selbst schützen, aber die, die wir zu Anderen erklären, verdrängen. Auch dies wird bei der Aufarbeitung zu reflektieren sein. Es ist schon paradox. Wir schaffen globale Themen und Probleme und versuchen dann diese durch Abgrenzungen und Verdrängungen zu lösen. Grundlage unseres Handels als Menschen muss jetzt die Erkenntnis sein, dass wir eine Menschheit sind, die ein gemeinsames Schicksal teilt. Schon jetzt steht fest, was wir jetzt und nach der Überwindung der Krise brauchen: Mehr Kooperation und Zusammenwirken aller. Und das braucht eben nicht nur Einsicht und Appelle, sondern auch Kompetenzen, wenn wir nicht historisch scheitern wollen.

Wird die Zukunft kooperativer werden? Noch ist es nicht entschieden

Die Krise zeigt eben auch, dass dialogische Kompetenzen noch nicht überall angekommen und verwirklicht worden sind. Bestimmte Perspektiven werden ausgegrenzt und wichtige Stimmen nicht gehört. Der Ruf nach starken Entscheidern (meist männlich) wird gerade in Krisenzeiten laut und auch beklatscht. Der Reflex sich in einer als bedrohlich wahrgenommen Situation von seinen Nachbarn abzuwenden, ist weder hilfreich, noch kann man ihn als angemessen bezeichnen. Gerade jetzt ist Solidarität von und für Menschen gefordert und nicht der Schutz von Grenzen.

Bessere Entscheidungen treffen diejenigen, die sich mit anderen austauschen und die über die Kompetenzen und den Willen zum lernen und entwickeln verfügen. Dazu gehört auch, dass wir gerade in  Zeiten der Krise unsere Humanität nicht vergessen, sondern leben. Ausdrücken würde sich dies in einer umfassenden Solidarität und Kooperation. Ansätze dazu erleben wir bereits an vielen Stellen. Sie gilt es zu stärken, wenn wir wirklich ein globales, solidarisches Miteinander schaffen wollen. Denn überall dort, wo wir es nicht können, schmerzt es umso mehr und schadet am Ende uns allen.

Die Zeit nach Corona aktiv gestalten: mit mediativen Komptenzen

Wenn Krisen wie ein Beschleuniger wirken, dann ist es jetzt auch an uns Mediator_innen, die enorme Bedeutung der mediativen Kompetenzen für die Weiterentwicklung dialogischer Formate zu betonen. Wie das gehen soll? Lasst uns Mediation machen! Lass uns Dialog-Foren organisieren! Lasst uns Kooperationen schaffen!

Überall, wo es jetzt Auseinandersetzungen gibt, ob in Famlien, die unter dem Lock-dow leiden, oder in Unternehmen, wo Mitarbeiter_innen neue Rollen finden müssen, Sorge und Angst vor Arbeitsplatzverlusten und wirtschaftlichen Einbußen haben, im Management, das vor nie gekannten Herausforderungen steht, in den internationalen Beziehungen, die durch das Gift des Nationalismus drohen erneut vergiftet zu werden.

Kurz, überall dort, wo Menschen sich miteiander auseinandersetzen wollen oder auch müssen, können mediative Kompetenzen einen echten Dialog initiieren und sicher. Basierend auf dem Wunsch ein besseres Verständnis herzustellen um bessere Lösungen zu schaffen. Und dort, wo der eine oder andere noch vor der Auseinandersetzung mit seinen Mitmenschen zurückschreckt, schafft die Mediation den notwendigen sicheren Raum, so dass auch die Unsicheren sich trauen können, andere Sichtweisen und Perspektiven anzuhören.

Beispiel „Vogelgrippe“

Als vor einigen Jahren die „Vogelgrippe“ ausbrach und eine weltweite Pandemie drohte, hatte der globale Norden sofort eine Lösung parat: Die Keulung aller Vögel. Der globale Süden reagiert entsetzt, denn die Hühner waren eine der wichtigsten Nahrungsquellen und -ressourcen für die Bevölkerung. Eine umfassende Keulung hätte den Hungertod von vielen Menschen bedeutet. Auch die Biologen warnten: eine weltweite Keulung würde den Genpool dezimieren und dann wüßte man nicht, ob die Tiere später, bei einer erneuten Krankheit noch eine ausreichende Diversivität hätten, um der Krankheit zu trotzen.

Drei unterschiedliche Perspektiven, aller aus ihrer Sicht richtig. Damals konnten wir mit Mediation dazu beitragen, dass eine Regelung gefunden wurde, die allen Interessen gerecht wurde und – vielleicht – einen Beitrag dazu leistete den globale Ausbruch zu verhindern.

Was die Mediation damals nicht vermochte war, den hinter den Vorhängen sich abspielenden Betrug in Bezug auf Impfmittel zu adressieren. Aber das ist ein anderer Aspekt dieser komplexen Geschichte. Festzuhalten bleibt: in komplexen Zusammenhängen bietet die Mediation die Unterstützung an, die gebraucht wird, um bessere Entscheidungen zu treffen.

Wir sind sicher, dass wir als Mediator_innen einen wichtigen und unverzichtbaren Beitrag zur Neugestaltung der Zeit nach Corona leisten können. Dafür müssen wir uns nur auf den Weg machen.

Thomas R. Henschel
April 2020